Anmerkungen zu Reinhard Merkel über den Krieg in der Ukraine*
- Felix Thiele
- 14. Mai 2022
- 5 Min. Lesezeit
Dem Liberalismus wird gelegentlich vorgeworfen, mit seinem Fokus auf die individuelle Freiheit ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, in dem die Stärkeren ihre Freiheit dazu nutzen, ihre Interessen durchzusetzen - und das zum Nachteil derer, die zwar frei, aber aufgrund anderer Gründe nicht in der Lage sind, ihre Interessen zu verteidigen. Eine solche auch als Neoliberalismus bezeichnete Position vertritt Reinhard Merkel nun gerade nicht. Er ist für mich das leuchtende Beispiel eines Liberalen, der die Würde des Einzelnen und besonders den Respekt für die Schwächeren in einer Gesellschaft in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt. Reinhard Merkel ist daher, ich bekenne es gern, seit vielen Jahren einen Fixstern meiner eigenen Arbeit. (Merkel wird an dieser Stelle schon längst freundlich abwinken und sagen: „Das ist ja alles ganz nett, lieber Herr Thiele, aber was ist denn nun ihr Punkt?“ Oder wie es die Engländer sagen: I am waiting for the but!)
Ja, was ist denn nun mein Punkt? Meine Kritik oder vielleicht besser mein Unbehagen richtet sich nicht gegen die inhaltliche Schlüssigkeit von Merkels Argumentation. Aber seine Gedankenführung scheint mir merkwürdig blutleer, ja vielleicht sogar deplatziert. Nun ist ja die Blutleere oder anders ausgedrückt die Emotionslosigkeit einer Argumentation eigentlich sogar ein Qualitätsmerkmal, denn die rationale Gedankenführung soll ja gerade nicht durch Emotionen vernebelt werden. Aber auch die rationalste Diskussion wird nicht in einem emotionslosen Raum geführt, sondern ist in eine mehr oder weniger emotionsgeladene Wirklichkeit eingebettet. Gerade im Fall der Ukraine ist das überdeutlich: Familien werden auseinandergerissen, Zivilisten sterben bei Bombardements oder werden von russischen Soldaten, gefoltert, vergewaltigt, mit dem Panzer überfahren und hingerichtet. Merkel geht es gerade um den Schutz dieser Menschen, Menschen die unschuldig in Gefahr geraten. Viele dieser Menschen fliehen deshalb, andere bleiben und wieder andere kehren sogar aus dem Exil zurück. Wie wird man dieser Gemengelage gerecht?
Merkels Argumentation mutet ein wenig an, wie der Versuch, den Pausenknopf zu drücken und alle Schachfiguren auf dem Brett zu befragen, ob sie denn mit ihrer jeweiligen Position und Perspektive zufrieden seien, und sie gegebenenfalls unversehrt vom Brett zu holen, oder, wenn das nicht klappt das Spiel, das ein grausamer Krieg ist, abzubrechen.
Diese Überlegungen sind, wie gesagt, keine Kritik an Merkels inhaltlicher Argumentation. Ich habe nur den Verdacht, dass seine Argumentation aufgrund der Situation nicht praktisch wirken kann. Die Ukraine und seine Bewohner werden vom Strudel der Ereignisse mitgerissen und in der Folge kommt es zu millionenfachem, unverschuldetem Leid. Wir sind Zeugen einer modernen Tragödie: Vor aller Augen spielt sich eine Katastrophe ab, die vorhersehbar war und ist, auf die wir dennoch kaum Einfluss zu haben scheinen.
Einen letzten Punkt möchte ich noch anführen, der dann doch eine gewisse inhaltliche Kritik an Merkels Argumentation darstellt. Ein wenig kommt mir seine Argumentation vor, wie eine modernisierte, akademische Version der alten Parole „Lieber rot als tot“ aus den den Zeiten der Nachrüstungsdebatte in den 1970er Jahren. Nun ist die Gegenparole „Better dead than red!“ keineswegs unproblematisch und schon garnicht ist sie eine Rechtfertigung dafür, die Zivilbevölkerung schutzlos großen Gefahren auszusetzen. Aber vielleicht beschreibt diese Parole, die sich auch als „Freiheit ist manchmal wichtiger als Leben“ interpretieren lässt, ganz gut den Spirit der ukrainischen Regierung, und wie es scheint vieler westlicher Anrainerstaaten Russlands. Putin bricht nicht nur einzelne Regeln des Menschen- und Völkerrechts, nein, er verachtet das freiheitliche Gesellschaftsmodell selbst, das diese Rechte überhaupt erst praktisch wirksam werden lässt. Vielleicht ist jetzt die Zeit, unsere Gesellschaftsordnung zu verteidigen, denn ohne diese Grundlage wäre Merkels Argumentation vielleicht immer noch ethisch richtig, aber praktisch bedeutungslos.
*Ich beziehe mich in diesem Beitrag ausschließlich auf ein Interview Merkels mit der F.A.Z., zuletzt aktualisiert am 4.5.2022Dem Liberalismus wird gelegentlich vorgeworfen, mit seinem Fokus auf die individuelle Freiheit ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, in dem die Stärkeren ihre Freiheit dazu nutzen, ihre Interessen durchzusetzen - und das zum Nachteil derer, die zwar frei, aber aufgrund anderer Gründe nicht in der Lage sind, ihre Interessen zu verteidigen. Eine solche auch als Neoliberalismus bezeichnete Position vertritt Reinhard Merkel nun gerade nicht. Er ist für mich das leuchtende Beispiel eines Liberalen, der die Würde des Einzelnen und besonders den Respekt für die Schwächeren in einer Gesellschaft in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt. Reinhard Merkel ist daher, ich bekenne es gern, seit vielen Jahren einen Fixstern meiner eigenen Arbeit. (Merkel wird an dieser Stelle schon längst freundlich abwinken und sagen: „Das ist ja alles ganz nett, lieber Herr Thiele, aber was ist denn nun ihr Punkt?“ Oder wie ist die Engländer sagen: I am waiting for the but!)
Ja, was ist denn nun mein Punkt? Meine Kritik oder vielleicht besser mein Unbehagen richtet sich nicht gegen die inhaltliche Schlüssigkeit von Merkels Argumentation, die in etwa so lautet: Die Ukraine hat das Recht und die Pflicht die eigene Bevölkerung gegen die russische Invasion zu verteidigen, aber auch die Pflicht verheerende Folgen dieser Verteidigung für ebendiese Bevölkerung zu vermeiden. Dies könnte bedeuten, möglichst schnell einen Waffenstillstand zu schließen.
Merkels Gedankenführung scheint mir merkwürdig blutleer, ja vielleicht sogar deplatziert. Nun ist ja die Blutleere oder anders ausgedrückt die Emotionslosigkeit einer Argumentation eigentlich sogar ein Qualitätsmerkmal, denn die rationale Gedankenführung soll ja gerade nicht durch Emotionen vernebelt werden. Aber auch die rationalste Diskussion wird nicht in einem emotionslosen Raum geführt, sondern ist in eine mehr oder weniger emotionsgeladene Wirklichkeit eingebettet. Gerade im Fall der Ukraine ist das überdeutlich: Familien werden auseinandergerissen, Zivilisten sterben bei Bombardements oder werden von russischen Soldaten, gefoltert, vergewaltigt, mit dem Panzer überfahren und hingerichtet. Merkel geht es gerade um den Schutz dieser Menschen, Menschen die unschuldig in Gefahr geraten. Viele dieser Menschen fliehen deshalb, andere bleiben und wieder andere kehren sogar aus dem Exil zurück. Wie wird man dieser Gemengelage gerecht?
Merkels Argumentation mutet ein wenig an, wie der Versuch, den Pausenknopf zu drücken und alle Schachfiguren auf dem Brett zu befragen, ob sie denn mit ihrer jeweiligen Position und Perspektive zufrieden seien, und sie gegebenenfalls unversehrt vom Brett zu holen, oder, wenn das nicht klappt, das Spiel, das hier ein grausamer Krieg ist, abzubrechen.
Diese Überlegungen sind, wie gesagt, keine Kritik an Merkels inhaltlicher Argumentation. Ich habe nur den Verdacht, dass seine Argumentation aufgrund der Situation nicht praktisch wirken kann. Die Ukraine und seine Bewohner werden vom Strudel der Ereignisse mitgerissen und in der Folge kommt es zu millionenfachem, unverschuldetem Leid. Wir sind Zeugen einer modernen Tragödie: Vor aller Augen spielt sich eine Katastrophe ab, die vorhersehbar war und ist, auf die wir dennoch kaum Einfluss zu haben scheinen.
Einen letzten Punkt möchte ich noch anführen, der dann doch eine gewisse inhaltliche Kritik an Merkels Argumentation darstellt. Ein wenig kommt mir seine Argumentation vor, wie eine modernisierte, akademische Version der alten Parole „Lieber rot als tot“ aus den den Zeiten der Nachrüstungsdebatte in den 1970er Jahren. Nun ist die Gegenparole „Better dead than red!“ keineswegs unproblematisch und schon garnicht ist sie eine Rechtfertigung dafür, die Zivilbevölkerung schutzlos großen Gefahren auszusetzen. Aber vielleicht beschreibt diese Parole, die sich auch als „Freiheit ist manchmal wichtiger als Leben“ interpretieren lässt, ganz gut den Spirit der ukrainischen Regierung, und wie es scheint vieler westlicher Anrainerstaaten Russlands. Putin bricht nicht nur einzelne Regeln des Menschen- und Völkerrechts, nein, er verachtet das freiheitliche Gesellschaftsmodell selbst, das diese Rechte überhaupt erst praktisch wirksam werden lässt. Vielleicht ist jetzt die Zeit, unsere Gesellschaftsordnung zu verteidigen, denn ohne diese Grundlage wäre Merkels Argumentation vielleicht immer noch ethisch richtig, aber praktisch bedeutungslos.
*Ich beziehe mich in diesem Beitrag ausschließlich auf ein Interview Merkels mit der F.A.Z. vom 4.5.2022
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